Wilhelm Gebhard
Als Kind der Region und mit 49 Lebensjahren erinnere mich noch sehr gut an Szenen in meinem Kopf in den 80-iger Jahren, als 8-jähriger, 10-jähriger oder 12-jähriger. Es waren Sonntagsspaziergänge entlang der damaligen innerdeutschen Grenze, die mich in meinen Bann gezogen haben. Weiß lackierte Rohrpfosten mit rotem Kopf des Bundesgrenzschutzes, auch Zündhölzer genannt, waren alle paar hundert Meter aufgestellt mit dem Hinweis "Halt, hier Grenze"! In unmittelbarer Nähe befanden sich Betonpfosten der DDR, schwarz-rot-gold angestrichen und mit einer eingeschlagenen Plakette versehen - darauf Hammer, Zirkel und Ährenkranz. 20 oder 30 Meter dahinter der unüberwindbare Zaun, der für uns Westdeutsche leicht erreichbar gewesen wäre, das Betreten jedoch strikt untersagt war, weil der Grünstreifen davor, das sog. Niemandsland, bereits DDR-Staatsgebiet war.
Warum erzähle ich das alles an einem Tag wie heute, wo doch den meisten hier unter uns der Grenzverlauf und der Aufbau der Grenzanlagen noch in schmerzhafter Erinnerung ist oder sie es aus Erzählungen bzw. aus Filmbeiträgen kennen. Ich erzähle das deshalb, weil mich schon damals als Kind die Frage beschäftigt hat, warum gibt es zwei deutsche Staaten, warum sind Deutsche dort und hier bei uns voneinander getrennt, warum werden sie durch Grenzsoldaten, von Wachtürmen, Hundelaufanlagen uvm. davon abgehalten, zu uns zu kommen und warum darf ich nicht mal auf die andere Seite des Zauns?
Vielleicht gerade weil mich diese Fragen seinerzeit so beschäftigt und gequält haben und ich dann mit 13 1/2 Jahren die Grenzöffnung hautnah miterleben durfte, mit all der Euphorie, der Freude, der Dankbarkeit, der Aufbruchstimmung und der Freundschaft, vielleicht stehe ich deshalb jetzt vor Ihnen. Die Zeit der Teilung, die Zeit der Wende und der Grenzöffnung und schließlich der Tag der Wiedervereinigung haben mich geprägt. Vielleicht hätte ich mich ohne diese Erfahrungen nicht schon so früh politisch interessiert gezeigt, hätte mich nicht als Bürgermeisterkandidat meiner Heimatstadt Wanfried aufstellen lassen und würde heute nicht als Mitglied des Deutschen Bundestags zu Ihnen sprechen dürfen. Vielleicht hätte ich ohne diese Erfahrungen auch nicht die Freundschaft zwischen den benachbarten Kommunen Treffurt und Südeichsfeld neu belebt, als ich im Jahr 2007 zum Bürgermeister gewählt wurde. Sie war nach der Anfangseuphorie Ende der 90-iger Jahre leider eingeschlafen. Eine Zeitungsgrenze und eine Landesgrenze dürfen uns in einem vereinten Deutschland nicht trennen, so meine Überzeugung. Ich bin sehr froh, dass ich mit Michael Reinz und Andreas Henning, Thomas Mäurer und Martin Kozber gleichgesinnte Mitstreiter gefunden habe und eine echte Männerfreundschaft und ein positives Arbeitsgremium daraus entstanden ist. Und am heutigen Tag lebt diese Freundschaft auch auf dem Heldrastein, mit Marko Heckerodt aus dem Ringgau und mit meinem Nachfolger im Amt des Bürgermeisters von Wanfried, Thilo Vogt.
Die Wende hat was mit mir gemacht, etwas in mir ausgelöst. Schwarz-rot-Gold, ohne Hammer, Zirkel und Ährenkranz, waren die Farben dieser Zeit, ein gesunder Patriotismus in einem vereinten Europa, ein ehrlicher Blick auf mein Land und ein gewisser Stolz entwickelten sich - nicht nur bei mir, sondern sicherlich bei vielen unter uns – eine friedliche Revolution ohne einen einzigen Schuss – darauf konnten alle Deutschen stolz sein. Wir erlebten in dieser Phase zwischen Grenzöffnung und Wiedervereinigung auch den dritten Titel bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Italien, genau zum richtigen Moment. Andreas Brehme verwandelte den überfälligen Foul-Elfmeter. Ich erinnere mich, wie ich mit 14 Jahren im Juli 1990 in einem übervollen Festzelt beim Wanfrieder Volks-, Schützen- und Heimatfest stand, und Landsleute aus noch zwei deutschen Staaten gemeinsam feierten und das Finale auf Großbildleinwand verfolgten. Ein Fahnenmeer aus schwarz-rot-gold überall – ganz selbstverständlich, ganz normal. Auf dem Heimweg in dieser Nacht erlebte ich Trabis auf der Mühlhäuser Straße, aus den hupenden Fahrzeugen wehten Deutschland-Flaggen, allerdings teilweise mit Loch in der Mitte der Flagge. Rausgeschnitten waren Hammer, Zirkel und Ährenkranz. Man hatte mit dem alten System gebrochen. Nur noch zweimal nach 1990 erlebten wir dieses Fahnenmeer. 2006 bei der Weltmeisterschaft im eigenen Land und 2014 beim erneuten Titel. In einer sich wandelnden Gesellschaft und einer zunehmend politisch aufgeheizten Stimmung haben wir Deutschen irgendwie den gesunden Bezug zu unserer Nationalflagge verloren bzw. wird man heute eher argwöhnisch betrachtet, wenn man sich mit ihr zeigt. Heute diskutieren wir mehr über das ob, wie und wann der Regenbogenflagge auf dem Reichstag, als über die Nationalflagge selbst, obwohl letztere wie nichts anderes für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung, für unser Grundgesetz, für Rechtsstaatlichkeit und für eine liberale Gesellschaft steht. Die eigene Nationalflagge so in Frage zu stellen, das schaffen gefühlt nur wir Deutsche.
Aktuell spüren wir es alle. 35 Jahre nach der Wiedervereinigung braucht dieses Land eine spürbare Veränderung oder einen Ruck, wie es bereits 1997 Roman Herzog gesagt hat.
Dieses Land braucht eine neue Euphorie, eine neue Aufbruchstimmung, ein neues Miteinander oder wie es einst Konrad Adenauer formulierte "ein Nationalgefühl, das jedem gesund denkenden Menschen innewohnen muss - er muss sein Land kennen und lieben und muss es verehren lernen, dann wird er auch bereit sein, für diesen Staat das notwendige Opfer zu bringen".
Ich bin überzeugt davon, dass ein positiver Bezug und eine starke Identität zum eigenen Land Berge versetzen, Krisen meistern und dringend notwendige Veränderungen bewirken können. Damit meine ich Deutsche mit und ohne Migrationshintergrund und alle, die sich mit unseren Werten identifizieren, unsere Rechtsordnung akzeptieren und respektieren und die sich als Gäste an unsere Regeln und Gesetze halten. Zauderer, Bedenkenträger, Festhalter an verkrusteten Strukturen und Menschen, die mit Demokratie und Freiheit nichts anfangen können, sind in dieser Zeit fehl am Platze – mit diesen Menschen hätte es auch keine Deutsche Einheit gegeben.
Heute begehen wir einen geschichtsträchtigen Tag, den Tag der Deutschen Einheit, der sich bereits zum 35-sten Mal jährt. Für die älteren unter uns, die die Wende, die Grenzöffnung und die Wiedervereinigung miterlebt haben, stellt sich die Frage, wo all die Jahre geblieben sind ?
Ein Tag wie heute eignet sich, auch all jenen zu gedenken, die die Wende in mutigen Montagsdemonstrationen und lauten Rufen "Wir sind das Volk" herbeigeführt und damit erst die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten möglich gemacht haben und die an einem Tag wie heute leider nicht mehr unter uns sein können. Sie waren keine Bedenkenträger, keine Zauderer, sie stellten sich mutig gegen Unfreiheit und gegen Ungerechtigkeit. Speziell sei heute an die gedacht, die hier bei uns vor Ort, im Werratal und rund um den Heldrastein gewirkt und gearbeitet und sich um die deutsch-deutsche, die hessisch-thüringische Verständigung und Freundschaft verdient gemacht haben und beispielsweise den Turm der Einheit und diesen wunderbaren Ort der Begegnung und der Erinnerung geschaffen haben.
Ich bitte Sie, für diejenigen, die heute nicht mehr unter uns sein können, sich für eine Schweigeminute von Ihren Plätzen zu erheben.
In diesem Zusammenhang möchte ich der IG Heldrastein für ihr einmaliges und engagiertes Wirken für uns alle, für eine ganze Region zwischen Hessen und Thüringen aufrichtig danken und ihr zurufen, dass wir sie auch zukünftig kraftvoll unterstützen werden, um dieses Kleinod und diesen Ort der Verständigung und der Erinnerung zu bewahren. Die IG Heldrastein ist der lebendige Beweis dafür, dass das Zusammenwachsen funktioniert hat und das Zusammenwirken gelingt. Ossis und Wessis gibt es hier nicht – dies ist leider noch immer nicht überall der Fall.
Ich bin froh, dass ich als ehemaliger Vorsitzender des VfL Wanfried mit darüber entscheiden durfte, auf die Rückübertragung dieses ehemaligen Vereinsgeländes, auf dem vor 100 Jahren noch die sog. Bergturnfeste stattfanden, zu verzichten und den Weg zur dauerhaften Nutzung dieses Fleckchens Erde für die IG Heldrastein freizumachen.
Wie ich bereits sagte, hat mich die Zeit um die Jahre 1989/1990 sehr geprägt. So ist auch mein Respekt und meine Wertschätzung für den ehemaligen Bundeskanzler Helmut Kohl entstanden, dem Kanzler der Einheit. Noch einer, der nicht gezögert und gezaudert hat. Schnell entwickelte er den 10 Punkte-Plan für die Einheit.
Sicherlich verlief rückblickend nicht alles zur Zufriedenheit, viele Menschen blieben auf der Strecke oder wurden von der Schnelligkeit des Systemwechsels überrollt, aber Helmut Kohl hat sich ans Werk gemacht und an die Einheit Deutschlands geglaubt und sie mit Entschlossenheit forciert. Im Großen und Ganzen dürfen wir bis heute stolz auf das Erreichte sein.
"Deutschland einig Vaterland", stand in der Wendezeit mit großen Buchstaben auf zahlreichen Bannern und Plakaten. Wir sollten gemeinsam auf die Straße gehen und erneut „Deutschland einig Vaterland“ skandieren. Wenn nicht jetzt, wann dann? Wir dürfen dieses Land nicht denen überlassen, die es nicht gut mit unserer Demokratie meinen. Wir dürfen sie aber auch nicht ständig in die Opferrolle bringen. Wir müssen sie politisch und demokratisch stellen!
Der Satz "Deutschland einig Vaterland" hat heute eine ganz neue und zugleich eine ganz andere Bedeutung. Nicht im Kontext zweier Staaten, die zusammen-gewachsen sind und zusammengehören, sondern in der schweren Frage, wie es jetzt weitergehen kann und muss.
Die Frage im Umgang mit der Migrationswende, der inneren und äußeren Sicherheit, der dringend notwendigen Sozialreformen, die Frage des Umgangs mit dem Klima und gleichzeitig der Stärkung des Wirtschaftsstandorts Deutschland und nicht zuletzt die Frage im Umgang mit extremen Parteien.
Statt die Kräfte für die Prüfung von Verbotsverfahren zu nutzen, sollten wir die Kraft eher dafür einsetzen, eine bessere Politik zu machen und Antworten auf die drängendsten Probleme zu geben. Nichts fürchten die politischen Ränder mehr als Pragmatismus und eine bürgerliche Politik der Vernunft für die Mehrheit der Menschen in unserem Land. Extreme Positionen, ob von links oder von rechts, haben diesem Land noch nie gut getan.
Wir sollten es auch nicht zulassen, dass mit dem Finger auf Menschen gezeigt wird, die in schwierigen Zeiten vermeintlich anders wählen. In dem Moment zeigen vier Finger auf uns selbst. Der Stimmenanteil für die AfD ist besonders in Ostdeutschland sehr hoch. Früher wurde den Menschen in Ostdeutschland vorgegeben, wen sie zu wählen haben. Ich finde es gefährlich, wenn wir Ostdeutsche heute dafür kritisieren, welchen Parteien sie in freien und geheimen Wahlen ihre Stimme geben. Das steht uns Westdeutschen nicht zu. Wir sollten vielmehr aus diesen Wahlergebnissen die richtigen Schlüsse ziehen und sie als Zeichen nehmen und einfach nur -wie oben bereits gesagt- eine „bessere Politik“ machen.
Darf man an einem Tag wie heute vielleicht auch mal mutig sein und sagen, dass Thilo Sarrazin doch nicht mit allem Unrecht hatte, als er 2015 sagte "Deutschland, schafft sich ab"? Wir müssen unseren Komplex ablegen und nicht alles als rechtsradikal abstempeln, was nicht dem vermeintlichen Mainstream entspricht. Wer bestimmt eigentlich den Mainstream? Hier möchte unsere Medienlandschaft ansprechen. Sie trägt aktuell in meinen Augen eine hohe Mitverantwortung, wie es in diesem Land weitergehen kann. Mehr Pluralismus wagen, wäre meines Erachtens jetzt notwendig. Eine demokratisch gefestigte Gesellschaft hält Meinungen von allen Seiten aus – wir sollten wieder mehr Demokratie wagen, wie es einst Willy Brandt sagte. Unterschiedliche Meinungen aus unterschiedlichen Richtungen bringt uns in der Mitte zusammen! Als Demokrat bin ich zutiefst davon überzeugt, dass in der Mitte die Wahrheit und die Kraft liegt. Die Politik muss mutiger werden, sie sollte gleichzeitig aber auch Vorbild sein und den Anfang bei der Lösung der Probleme machen – die Agenda 2010 von Gerhard Schröder war bspw. mutig und hat uns viele Jahre Wohlstand gebracht und wettbewerbsfähig gemacht. Erkannt haben das zu Beginn der 2000er Jahre nur wenige. Ich bin überzeugt davon, dass die Menschen erneut bereit sind, Reformen mitzumachen und Veränderungen zuzulassen. Aber dann bitte in einem schlüssigen Konzept für alle und nicht nur für einzelne Gruppen. „Deutschland einig Vaterland“ heißt daher erneut das Gebot der Stunde.
Zukunft lebt von Zuversicht und Optimismus. Lassen Sie uns heute gemeinsam mit der Einigkeit beginnen. Wir sollten gemeinsam mehr das Verbindende und Positive betonen und weniger das Negative beklagen.

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